Im April 2017 wagte ich den Schritt raus aus meiner Komfortzone und rein in eine andere, ziemlich erschütternde Realität. Für eine Woche wollte ich aktive Hilfe in einer griechischen Unterkunft für geflüchtete Menschen leisten. Als Teil eines vierköpfigen Teams der Organisation In safe hands e.V. trat ich meine Reise aus Köln an. In safe hands e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, der im Jahr 2015 von Andreas Luthe (Torwart des FC Augsburg) und Jonas Ermes (ehem. Torwart des VfL Bochum) gegründet wurde und seither den Fußball als Instrument nutzt, um ein vorurteilsfreies, wertschätzendes und interkulturelles Zusammenleben zu fördern.
Angekommen in dem griechischen Camp sagte eine Helferin zu mir: „Unser aller Leben ist wie ein großer Lostopf und wir haben das goldene Los gezogen.“. Nun ist es an der Zeit, die anderen Lose aufzuklappen und zu schauen, was in ihnen steht.
Im Norden Griechenlands, am Rande der Stadt Veria, wurde im Herbst 2016 ein Camp für geflüchtete Menschen in einer alten Militärkaserne eröffnet, die ursprünglich sehr rustikal eingerichtet worden war und den Soldaten nur als Schlafstätte gedient hatte. Das Camp war bei meiner Ankunft bereits in die Jahre gekommen, beherbergte zu dem Zeitpunkt nichtsdestotrotz nach UN-Angaben 210 syrische und irakische Geflüchtete. Überwiegend lebten dort besonders schutzbedürftige Menschen: viele Witwen mit ihren Kindern, Schwangere, Neugeborene, Alte oder Menschen mit Behinderungen. Und das auf engstem Raum.
Eine Lebensmittelverteilung, bei der ich von Zimmertür zu Zimmertür gegangen bin, brachte mir die Umstände etwas näher. Die Räume waren kahl und teilweise voller Schimmel. Die Luft stand und war sehr unangenehm. Es hingen Teppiche vor den Türen, um den Schall vom Flur zu dämmen und sich wenigstens etwas Privatsphäre zu ermöglichen, was jedoch nur spärlich gelang. Die Bewohner*innen teilten sich provisorische Küchen und Toiletten, die Dixi-Klos ähnelten. Jede Familie bekam einen Raum, mit etwas Glück ausgestattet mit Metallbetten, bei weniger Glück gab es immerhin eine Matratze. Die Zuteilung zu den Räumen verlief schockierend willkürlich. Mal bezog ein einzelner Mann einen riesigen Raum mit acht freien Betten; mal bewohnte eine achtköpfige Familie einen kleinen Raum mit nur zwei Betten. In den Räumen lebten, lachten, weinten, kochten, aßen und schliefen die Bewohner*innen.
Die äußeren Bedingungen in Veria waren mit Sicherheit nicht vergleichbar mit der Situation auf den griechischen Inseln, wo auch heute noch Zelt an Zelt steht und es an allem mangelt. Das Camp stand Tag für Tag unter der Leitung der Organisation „Bridge2Refugees“. Sie übernahm glücklicherweise die Lebensmittel- und Kleidungsversorgung. Die nötigsten Bedürfnisse der Menschen wurden mit dem Ziel gedeckt, ihnen etwas Würde zurückzugeben. Trotz allem ließen die äußeren Bedingungen die Geflüchteten weiterhin leiden. So lag eine krasse Perspektivlosigkeit und Trauer in der Luft, die mich wahrlich erschlug. Ich begriff schnell: die Bewohner*innen verwelkten in dem Camp. Dabei wollten viele wirklich etwas schaffen und bewegen.
So zum Beispiel Amar, ein 18-jähriges Mädchen, dass sich im Camp Deutsch, Griechisch, Englisch, Spanisch und etwas Türkisch beigebracht hatte. Sie wollte unbedingt Abitur machen und Nano-Technologie studieren. Den Kontakt zu ihr konnte ich tatsächlich halten. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland absolvierte sie ihr Abitur und belegt aktuell einen Vorbereitungskurs für ihr Studium an der Universität Heidelberg. Ein anderes Beispiel lieferte Duaa, eine 27-jährige Mutter von zwei Töchtern, die Englisch an die Kinder und die Frauen des Camps unterrichtete. Wohin es Duaas Familie verschlug, weiß ich leider nicht.
Während meines Besuchs im Camp wurde mir bewusst, wie schwer es für geflüchtete Menschen sein muss, NICHTS selbst entscheiden zu dürfen. Ihnen wurde ein Raum zugeteilt, sie bekamen ein bisschen Taschengeld, das Militär hielt die Stellung. Sie bekamen zweimal am Tag eine Mahlzeit: Reis mit Ketchup oder Nudeln mit Fleischstücken. Obwohl „Bridge2Refugees“ wie oben beschrieben für weitere notwendige Lebensmittel, für Kleidung, für Spielzeug und Ähnliches sorgte, war die Versorgung sehr begrenzt.
Die Geflüchteten führten vor dem Krieg in Syrien ein ganz „normales Leben“. Heute müssen sie sich zurückstecken und können an ihrer Situation aus eigener Kraft nichts ändern. Alle warten auf die Asylentscheidung. Keiner kann ihnen sagen, wie lange das dauert. 3 Monate? 6 Monate? 1 Jahr? 2 Jahre? Wie lange kann ein Jahr sein? Wo stand ich vor einem Jahr? Was habe ich seitdem erlebt? Wohin bin ich gereist? Wen habe ich alles getroffen? Ja, mein letztes Jahr war sehr vielseitig und ereignisreich. Doch viele der Bewohner*innen haben das ganze letzte Jahr in dem staubigen Camp auf engstem Raum gehaust, ohne einen blassen Schimmer, wann und wohin es weitergeht. Jeden Morgen checkten sie, ob ihre Familienmitglieder, Freunde und Freundinnen in Syrien noch lebten und es passierte schon mal, dass dem nicht so war.
Hierin Deutschland beleuchten wir oftmals nur die gesamtgesellschaftliche Problematik des „Flüchtlingsthemas“. Gefühlt dreht sich alles nur darum, was die Menschenströme für unser Leben bedeuten. Und eins ist sicher: Einschränken wollen wir uns nicht! Ich werde das Gefühl nicht los, dass Geflüchtete manchmal als „Menschen zweiter Klasse“ eingestuft werden, ob bewusst oder unbewusst. Wie furchtbar der Zustand der Hilflosigkeit, der Fremdbestimmung und des Unwissens für die einzelnen Geflüchteten ist, ist vielen unter uns nicht bewusst. Genau das ist aber ein Los, das auch wir hätten ziehen können. Es ist ein Leben, das auch das unsere sein könnte. Das Glück war jedoch auf unserer Seite. Doch egal welche Farbe ein Los hat, jeder Mensch ist doch gleich viel wert, oder nicht?
Ein Bericht von Greta Tacke
Projektmanagement
„In safe hands e.V. – Integrationsschule“
greta@insafehands.de
Der Bericht ist Teil der aktuellen Broschüre “Flucht und Fußball”, welche hier heruntergeladen oder als Printausgabe kostenlos bei unserem Mitarbeiter Carsten Blecher unter c.blecher@fanprojekt.jugz.de bestellt werden kann.